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Der Wagen fährt die Sonnenallee entlang, die Männer sind unterwegs zu einer Schule. Eine Schülerin ist von einem Mädchen angegriffen worden. Es gab eine Anzeige, das Opfer wurde deshalb erneut bedroht. Es ist nichts Spektakuläres, die Beamten befragen das Opfer, wie war das genau, wissen deine Eltern Bescheid, weißt du, wo die Schlägerin wohnt? Es gibt ein einfaches Prinzip: Wer Ärger macht, bekommt Besuch. Manchmal zu Hause, manchmal auf der Straße, manchmal im Jugendclub oder wo Jugendgangs sonst rumhängen. Sie lassen den Jugendlichen dann nicht mehr aus den Augen, sie schauen jeden Tag bei ihm vorbei. "Die wissen dann, dass sie unter Beobachtung stehen. Die fühlen sich kontrolliert. Manchmal reicht das, um eine kriminelle Karriere zu verhindern", sagt Andreas R. Tarek ist so ein Fall. Er ist 14, und eigentlich heißt er ganz anders . Mit zwei älteren Jungs hatte er jemandem auf der Straße das Handy abgenommen. Das war noch nicht alles. Sie zwangen das Opfer, sie mit nach Hause zu nehmen. Dann haben sie seine Wohnung ausgeräumt. Tarek hat nur zugeschaut, er sollte wohl vor allem angelernt werden. Die Täter wurden später gefasst. Tarek hat dann sehr oft von der Polizei Besuch bekommen, immer wieder, über Wochen. "Seitdem hat er die Finger von solchen Aktionen gelassen", sagt Christian H. Es ist harte Arbeit, die Männer sind viel unterwegs. Manchmal haben sie Erfolg, oft genug ist der Einsatz am Ende aber vergeblich. Sie wissen, dass die Jugendkriminalität eher steigt als sinkt. Aber sie wissen auch, dass die Zahlen ohne ihre Arbeit noch viel höher wären. Am nördlichen Rand des Kiezes, in dem die Beamten unterwegs sind, liegt in einer Seitenstraße die Rütli-Schule. Vor knapp zwei Jahren hatten Kamerateams tagelang das Gebäude mit seinen beiden mächtigen Seitenflügeln umstellt.
Anfangs hat Aleksander Dzembritzki jeden Tag gezählt, den er als neuer Direktor an der Rütli-Schule arbeitete. Der Start vor einem Jahr war nicht gerade leicht, nicht nur, weil es die Rütli-Schule war. Sein Vater ist seit Jahrzehnten ein einflussreicher Berliner Sozialdemokrat. In den ersten Monaten wurde er oft gefragt: Dzembritzki? Sind Sie nicht der Sohn des SPD-Politikers? Das hat ihn ziemlich geärgert. Vor ein paar Wochen wurde dann sein Vater zum ersten Mal gefragt: Dzembritzki? Sind Sie mit dem Direktor der Rütli-Schule verwandt? Da wusste der Sohn, dass er auf dem richtigen Weg war. Sagen, was Sache istMit dem Tagezählen hat er aufgehört, denn die Rütli-Schule ist der Mittelpunkt für ein Projekt geworden, das den ganzen Problemkiez umkrempeln soll. Bei "Campus Rütli" geht es im Kern darum, dass die Kinder von klein an bis zur Berufssuche dort betreut werden sollen.Die Straße, an der die Schule liegt, wird keine mehr sein, und der Jugendclub, die beiden Kindergärten, die benachbarte Realschule sind künftig eine Einheit. Eine Mensa ist geplant und eine Cafeteria. Dazu kommen ein Sozialpädagogischer Dienst und eine Grundschule, die auf das Gelände ziehen soll. Schirmherrin ist Christina Rau, die Frau des früheren Bundespräsidenten. Dazu wird ein Ganztagsbetrieb von sechsUhr früh bis 21Uhr abends organisiert. "Hier wird alles miteinander verknüpft, was für Bildung wichtig ist", sagt Dzembritzki. Das ist wohl einmalig in der Republik. Genauso einmalig wie der Hilferuf der Rütli-Lehrer. Es kostet viel Zeit und Kraft, es gibt Lehrer, die zweifeln, anderen ist das Tempo der Veränderung manchmal zu hoch. Am Ende zählt wohl vor allem eines: "Wir haben den Tunnel beschritten", sagt Dzembritzki. "Und ganz weit hinten sehen wir Licht." In einem ungeheuer geräumigen Amtszimmer sitzt Heinz Buschkowsky. Durchs Fenster dringt der Lärm der Karl-Marx-Straße, der anderen großen Neuköllner Lebensader. An den Wänden hängen Ölgemälde, meist surrealistische Szenen. Eine reine MigrationsstadtAuf dem Boden ist grünlicher Teppich verlegt, an der Decke hängt ein wagenradgroßer, schmiedeeiserner Leuchter. Das ist die Zentrale des SPD-Politikers. Seit sechs Jahren ist Buschkowsky Bürgermeister von Neukölln. Er hat ein unverrückbares Image, wie der Bezirk, den er regiert.Buschkowsky ist zuständig für politische Unbequemlichkeiten. Eine gewisse Berühmtheit hat er mit der Feststellung erlangt, Multikulti sei gescheitert. Da haben viele Konservative applaudiert. Einige Parteifreunde haben heftig mit dem Kopf geschüttelt. Er meinte es nicht ideologisch. Er meinte: Wenn man Probleme lösen will, dann muss man zuerst die Wirklichkeit akzeptieren. Er hat da einen einfachen Grundsatz: "Je bunter die Mischung, umso klarer müssen die Regeln sein." Das bringt ihm manchmal den Vorwurf ein, er sei ein Rechter, sei autoritär. Er profiliere sich auf Kosten der Partei. Dabei ist es wohl eher so: Heinz Buschkowsky sagt, was Sache ist.
Die privaten Wachdienste vor Schulen hat er durchgesetzt, obwohl das dem Berliner Senat nicht gefiel. "Der Unwille, sich den Verhältnissen zu stellen, macht mich mehr kirre als die Verhältnisse selbst", sagt er. Buschkowsky hat sich nicht beirren lassen, auch nicht, als das erste Unternehmen absprang. Er hat eine neue Firma ausgesucht, den Start um sechs Wochen verschoben und die Sache durchgezogen. Neulich stand er in einem Festsaal im Rathaus. Auf dem Kopf trug er einen kleinen goldenen Turban, über die Schultern hatte ihm jemand ein grünes, golddurchwirktes Seidentuch gelegt, und auf der Stirn klebte ein roter Punkt. Er sah aus wie der Brahma von Neukölln. Um ihn herum standen lauter Inder in ihren Gewändern, und auf einem Tisch stand eine sechsarmige, silberne Elefantengottheit. Es war eine Dankzeremonie der Sri-Ganesha-Gemeinde. Sie will in Neukölln einen Hindu-Tempel für 6000Gläubige bauen, und Heinz Buschkowsky hat sich sehr dafür eingesetzt. Das alles hat für Buschkowsky nichts mit Multikulti zu tun. Für ihn ist es ein Symbol dafür, dass sich Neukölln verändern kann, man muss es nur anpacken. Wenn man im Neuköllner Rathaus einen langen, kahlen Flur hinabgeht, vorbei an dem Schild, das Alkoholkonsum auf den Gängen streng verbietet, gelangt man zu einem kleinen Amtszimmer. Dort sitzt Mariam. Ihre Haare sind unter einem schwarzen Tuch verborgen, hinter ihr liegen stapelweise sortierte Fotokopien, die Wände sind bedeckt mit Zetteln und Plakaten. Ihre Augen sind dunkel geschminkt, sie trägt einen kleinen, geschliffenen Stein im rechten Nasenflügel. Ihre Eltern sind in den achtziger Jahren vor dem Bürgerkrieg im Libanon geflüchtet, seitdem lebt sie in Neukölln. Mariam ist "Stadtteilmutter", das klingt altmodisch, ist aber ein Pilotprojekt. "Wer hier geboren ist, fühlt sich weder als Deutscher noch als Araber", sagt sie. So führen viele Familien ein sehr zurückgezogenes Leben. Sie schaffen sich ihre eigene Welt. Nur jedes zweite Kind geht hier in die Kita. Oft lernen sie nicht einmal Deutsch. Gebrauchsanleitung für die deutsche GesellschaftIm Prinzip geht es Mariam und den anderen Stadtteilmüttern darum, ein paar Fenster aufzustoßen, manchmal eine Tür. Sie besuchen junge Migrantenfamilien, dafür werden sie einige Monate lang ausgebildet. Vorgesehen sind zehn Besuche, jeder eine Stunde lang, und alles ist freiwillig.Bei den Besuchen geht es darum zu erklären, warum es sinnvoll ist, Kinder in die Kita zu geben. Oder wo man Deutsch lernen kann. Es geht um Erziehung oder um gesunde Ernährung. Es ist eine Art Gebrauchsanleitung für die deutsche Gesellschaft. Inzwischen gibt es in Neukölln 80 Stadtteilmütter, 200 sollen es werden, die Nachfrage steigt. Es sind mutige Frauen, oft stoßen sie auf das Misstrauen der Männer oder die Sorge, dass das Jugendamt die Familie ausspähen will. Es ist gar nicht lange her, da ist eine Stadtteilmutter während einer Versammlung in einer Neuköllner Moschee plötzlich aufgestanden. Es waren fast nur Männer da. Sie hat ihren Mut zusammengenommen und einen Mann aus der Nachbarschaft gefragt, warum er nicht will, dass seine Frau an der Sache teilnimmt. Fünf Minuten lang hat sie erklärt, was eine Stadtteilmutter macht. Am Ende haben alle in der Moschee laut geklatscht. Einmal im Jahr gibt es eine Nacht, die eine Ahnung davon gibt, dass Neukölln mehr sein könnte als nur die Summe aller Probleme. Dann öffnen Künstler und Galeristen ihre Räume für die ![]() Es ist nicht wie bei den schicken Galerierundgängen in Mitte. Es sind keine bekannten Leute, die hier ausstellen. Was man sieht, ist oft überraschend und manchmal enttäuschend, es ist originell und vor allem ungewöhnlich. Inzwischen fliegen Galeristen aus dem Ausland für diese Nacht nach Berlin. Bier und BrötchenIn einem Zimmer, in dem die Tapete von den Wänden gerissen ist, sitzt Kate Price. Auf eine Wand hat sie eine abstrakte Collage gemalt und geklebt, sie wirkt wie Lichtreflexe, die durch eine Fensterscheibe gebrochen werden. Kate Price ist vor zwei Jahren von London nach Neukölln in diese heruntergekommene Wohnung gezogen und hat sie zu ihrem Atelier gemacht. Tagsüber ist sie oft in den Straßen unterwegs, um Dinge zu sammeln, die sie für ihre Kunst verwendet. Glas, ein Schlüssel, ein Stück Stoff.Der Schillerkiez, in dem Kate Price lebt und arbeitet, liegt selbst für Neuköllner Verhältnisse abgeschieden. Eine graue Gegend mit vielen Altbauten und einer ziemlich runtergekommenen Promenade im Zentrum. Manchmal dröhnt eine Propellermaschine über die Dächer und landet gleich hinter den Häusern auf dem riesigen Rollfeld des Tempelhofer Flughafens. Die Menschen, die hier leben, sind arm, und es wird viel Alkohol getrunken. Das Bier kauft man gleich morgens mit den Brötchen beim Bäcker. Kate Price sagt, dass sie in Berlin nirgendwo anders als in Neukölln wohnen möchte. Nicht in Friedrichshain, nicht in Kreuzberg, erst recht nicht in Prenzlauer Berg. Sie fühle sich wohl hier, sagt sie: "Die sozialen Probleme hier sind nichts im Vergleich zu denen meiner Heimatstadt Manchester." Wenn sie nachts ausgeht, ist sie nicht in Mitte unterwegs, sondern rund um den Hermannplatz. Bars haben sich dort etabliert, es gibt Clubs und Off-Theater. Immer mehr ihrer Freunde ziehen her. Die Mieten sind niedrig, es gibt viele leerstehende Wohnungen, die man zu Ateliers umbauen kann. Auf Englisch sage man, erzählt Price: "Art comes and real estate follows." Erst kommen die Künstler, dann die Immobilienmakler. Der Satz war mal auf New York gemünzt. Vielleicht passt er eines Tages auf Berlin.
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